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Ruhrfestspiele: „Theater bringt uns an moralische Grenzen“

Interview mit Olaf Kröck, Intendant der Ruhrfestspiele, über das Verhältnis von Theater und Kirche.

Ruhrfestspiele/Max Brunnert

Die Ruhrfestspiele, eines des ältesten Theaterfestivals Europas, sind in ihre 78. Saison gestartet. Mit Intendant Olaf Kröck lotete geistREich Gemeinsamkeiten und Trennlinien von Theater und Kirche aus. 

Olaf Kröck, die Ruhrfestspiele als Hochamt der Kunst im Tempel der Kultur: Was halten Sie von derlei Metaphern?

Viel, selbst wenn sie mir beinahe zu plattitüdenhaft sind. Das Theater ist erfunden worden zu Ehren von Dionysos, dem Gott des Weines, des Vergnügens, der Ekstase und des Wahnsinns. Dass da ein Gott für überpositive und wahnsinnige Momente definiert ist, finde ich faszinierend. Für ihn haben die Griechen die dionysischen Feste ausgerufen, zu denen vor allem Theater aufgeführt wurde. Zu einer Zeit, in der die Demokratie erfunden wurde. Offensichtlich brauchte man neben dem gemeinsamen Ringen um Entscheidungen auch Entlastungsmomente des Feierns. Theater ist nicht gleichzusetzen mit Religion und Glauben, aber es kennt den Moment des Spirituellen. 

Und es gibt erstaunliche Gemeinsamkeiten: Altar und Bühne, Gewand und Kostüm, Predigt und Monolog, …

Definitiv sind die Liturgien in den christlichen Kirchen große Inszenierungen. Deswegen war ich als Kind begeistert vom Katholizismus, obwohl ich Protestant bin. Der Papst, so eine Königsfigur – unglaublich. Und dann diese Vorstellung, dass jemand für unfehlbar erklärt wird. Als Konzept für mich grundlegend falsch, aber dass so etwas in der Welt ist, bleibt faszinierend. Die Ausübung von Religion hat viel mit theatralen Mitteln zu tun. Bis in die antiken, außereuropäischen Kulturen und in Naturreligionen hinein finden wir theatrale Momente: es gibt immer jemanden, der tanzt, singt, der eine Imitation von etwas Größerem, Göttlichen schafft. Theater tut nichts anderes: Es will auf etwas Größeres verweisen. 

Verfolgen Kirche und Theater ähnliche Ziele? Beide erachten sich zuständig für ein humanes Leben, arbeiten an der Verbesserung der Menschen.

Im tragischen Konflikt des antiken Theaters gibt es für die Heldin oder den Helden kein Entrinnen aus der Katastrophe. Sie verstoßen entweder gegen das weltliche Gesetz oder gegen das der Götter, und das schockierende Beobachten sollte die Menschen zurechtrücken. Daraus hat die Aufklärung gemacht, dass der Schock zu Erkenntnis und die zu Besserungführt. Insofern ist Theater heute ein zutiefst demokratieförderndes Mittel. Das Theater zeigt Konflikte und den Umgang damit. Und wir beobachten, verstehen, lernen. 

Die Moral soll im Menschen wachsen, während Religion die Moral definiert?

Gute Kunst fragt, was moralische Kategorien sind und ob sie stimmen. Wir dürfen uns nicht davon entfernen, dass die Würde des Menschen unantastbar und alles menschliche Sein ohne Ausnahme gleiche Rechte hat. Kunst kann fragen, was geschieht, wenn der Mensch diese Prinzipien missachtet. Gefährlich ist, wenn ein moralischer Kontext – zum Beispiel in der Kirche – so groß werden soll, dass solche Grundregeln infrage gestellt werden. Stehen einzelne oder ganze Gruppen über anderen, weil sie eine andere Herkunft haben, ärmer sind, auf andere Art leben, oder lieben? Wer bestimmt, was ich mit meinem eigenen Körper tun darf? Kunst hat es leichter, weil wir im Theater nur simulieren, während Religion eine moralische Festlegung macht. Wir wissen alle, dass die Umsetzung religiöser Gesetze und Dogmen mitunter traumatische Effekte hatte. Da ist Kirche heute sehr viel weitergekommen, ihre Bedeutung und Auswirkungen auf die Menschen kritisch zu hinterfragen. Sie muss damit umgehen, dass sie einen Machtverlust erlitten hat. 

Trotz vieler Ähnlichkeiten arbeitet sich Theater an der Kirche ab.

Weil Kirche ein Machtsystem ist. Hierzulande ist Kirche kein wirklicher Reibungspunkt für das Theater. Aber an anderen Orten ist das anders: In Polen zum Beispiel ist die Kirche noch eine derart große Instanz, dass es in Theatern zu handfesten Skandalen kam. Kirche hat ja aktiv nationalistische und antidemokratische politische Prozesse unterstützt. Ähnliches erleben wir gerade bei den Evangelikalen in den USA. 

Kann das Theater das Nichtwissen über das Transzendentale leichter verhandeln, während die Kirche auf den Glauben setzt?

Das ist das Schönste am Glauben: Der Mensch hat die Fähigkeit, sich lenken zu lassen von einem Glauben, dass etwas auf irgendeine Weise ist, obwohl er etwas nicht weiß. Ein fester Glaube kann Menschen sehr stark und zuversichtlich machen. Theater sucht eher nach der Komplexität und den Widersprüchen im Leben, also den Unsicherheiten. Es bringt uns an die eigenen moralischen und ethischen Grenzen. Die Weltlage bietet unzählige Beispiele, bei denen wir orientierungslos sind. Gegenwärtig die wahrscheinlich wichtigste Frage: Wie schaffen wir Frieden? Ein naiver Pazifismus stoppt den Aggressor Russland in der Ukraine nicht. Aber schaffen Waffen Frieden? Ich habe damals den Kriegsdienst verweigert. Das erachte ich heute noch für richtig, aber mein Blick auf die Welt hat sich verändert. Und ich denke nicht, dass man den Kriegsverbrecher Putin mit frommen Worten aufhalten kann. 

Theater sollte immer wieder Erneuerung sein, Kirche tut sich schwer damit. Wie nehmen Sie als Dramaturg, Regisseur und Intendant die Kirche(n) wahr?

Ich habe das große Glück, eine Reihe unglaublich toller, kirchenaktiver Menschen zu kennen. Die kritikfähig sind, die Welt offen wahrnehmen und sich mit all diesen Dogmen schwertun, sich daran abarbeiten und doch nicht austreten. Trotz reaktionärer Gegenbestrebungen glauben sie daran, dass Veränderung innerhalb des Systems möglich ist. Da machen sich Menschen die Mühe, nicht aufzugeben. Das nötigt mir viel Respekt ab. Zugleich würde ich aber auch das Theater nicht überschätzen, das ähnlich wie die Kirchen ein Stück weit seine Bedeutung verliert. Denn wir leben in einer Vielstimmigkeit der medialen Möglichkeiten. Dadurch können wir die Komplexität der Welt immer besser wahrnehmen, aber es wird schwerer, sich in ihr zu orientieren. Vielleicht sehnen sich darum Menschen immer wieder nach einer absoluten Instanz, die den Weg weist. Aber die Geschichte hat uns gezeigt, dass das zu nichts Gutem führt. 

Zeit für die Gretchenfrage: Herr Kröck, wie halten Sie’s mit der Religion? Woran glauben Sie?

Ich bin weiterhin Mitglied der Kirche, bin aber nicht aktiv engagiert. Das Konzept der Gemeinde finde ich ein unheimlich gutes und wichtiges. Eine Gemeinschaft, die füreinander da ist, auch Seelsorge leistet. Aber wo es von oben herab mächtig wird, reagiere ich mit Ablehnung und Skepsis.

Ich selbst habe eher einen naturwissenschaftlichen Blick auf die Welt. Aber letztens habe ich eine hochinteressante Debatte verfolgt, wo Natur- und Geisteswissenschaftler mit hoher Kenntnis die Frage erörtert haben, wie kam es zum Urknall und damit der – auch wissenschaftlich relevanten Frage: Wie wurde aus Nichts Alles? Und da waren sich diese schlauen Menschen nicht einig. Ich bin auch eher auf der Seite, die glauben, dass es da eine ordnende Instanz gab, die alles in Gang gesetzt hat. Die ist für mich nicht klischeehaft mit Rauschebart, nicht männlich oder weiblich, nicht strafend. Ich fürchte, diese Instanz greift auch nicht in unsere Alltagsprobleme ein. Dieses Prinzip ist so groß, dass es eine einzelne Wissenschaft nicht erklären kann. Es braucht theologische, geistes- und naturwissenschaftliche Aspekte, es braucht Philosophie. Nennen wir es doch für den Augenblick Gott. ■ Dr. Christine Walther, Christoph von Bürk