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Recklinghausen: CSD-Gottesdienste und Regenbogenfahnen

Interview mit Seelsorgerin Sr. Judith Kohorst und Marcus Gutfleisch, Pressesprecher der ökumenischen Arbeitsgruppe Homosexuelle und Kirche, über die Kirche und ihr Verhältnis zur sexuellen Vielfalt.

Sr. Judth Kohorst und Marcus Gutfleisch verständigen sich über das komplizierte Verhältnis von Kirche und Sexualität.

Was hat sich getan? Hat sich überhaupt was getan? Christopher Street Day (CSD), Out in Church, LSBTQ und Segensfeiern für gleichgeschlechtliche Paare stellen Herausforderungen für die bisherige Sexualmoral der katholischen Kirche dar. Sr. Judith Kohorst (SJ), Seelsorgerin in der Gastkirchengemeinde, und Marcus Gutfleisch (MG), Pressesprecher der ökumenischen Arbeitsgruppe Homosexuelle und Kirche (HuK), nehmen Stellung zu gegenwärtigen Entwicklungen, die sie wahrnehmen. 

Viele sprechen davon, dass die Kirche eine neue Sexualmoral braucht. Wie stehen Sie dazu?

SJ:
Ja, auf jeden Fall! Bisher sind die Aussagen zur Sexualität zu stark an Ängsten, Bedenken und Verboten orientiert. Leider steht nicht so sehr das Befreiende, das Lebensspendende der Liebe im Vordergrund. Es herrscht die Angst, dass irgendetwas den Bach runter gehen könnte.

MG:
Die katholische Sexualmoral ist verengt, einseitig und unbiblisch. Zudem hört man immer wieder, sie müsse nur weiterentwickelt werden. Doch da muss etwas Neues hin, was die Menschen eben nicht reglementiert, sondern sie erreicht und ermutigt. 

Wie sollte die Kirche über Themen der Sexualität sprechen? Sollte sie überhaupt darüber sprechen?

SJ:
Jedenfalls nicht so, dass wir als katholische Kirchen sagen: „So muss es sein!“ Ein Stück Zurückhaltung wäre gut. Wenn es im Sinne von Ermutigung ist, darf die Kirche etwas sagen. Auch sollte sie Einspruch erheben, wo die Würde von Menschen missbraucht wird. Bei der Zwangsprostitution sollte sie das Wort erheben, gerade auch bei Armutsprostitution. Bei der Frage, wie Paare – ganz gleich ob homo- oder heterosexuell – ihre Sexualität leben, stünde ihr eine Zurückhaltung gut an.

MG: Ich weiß, dass es in der heutigen Jugendarbeit der katholischen Kirche auch viel Mutmachendes in der Sexualpädagogik gibt. Das zu tun, halte ich für wichtig. Ermutigung brauchen alle. Von der Botschaft her hat die Kirche gute Ansätze, aber sie hat es sich selbst durch manches verbaut. Deshalb könnte sie auch mal schweigen! 

Die römische Glaubensbehörde hat in der Erklärung Fiducia supplicans (Das flehende Vertrauen) die Segnung gleichgeschlechtlicher Paare unter bestimmten Bedingungen zugelassen. Hat sich dadurch irgendetwas verbessert? Wenn ja, was?

SJ:
Die an sich positive Botschaft von der Segnung für gleichgeschlechtliche Paare ist leider hinter vielen Einschränkungen versteckt worden. Das kann man als kränkend empfinden. Es wirkt so, als wenn diese Segnung etwas Gefährliches wäre, weil sie eventuell zu nahe an ein Trauungsritual heranreicht. Und das nur, weil zwei liebende Menschen um Gottes Segen bitten.

MG: Kirchenpolitisch kann das ein Zeichen sein, und auf die Weltkirche bezogen mag diese Regelung kleine Türen öffnen, aber hier in unseren Breiten löst das keine Ermutigung aus. Deshalb sagen auch viele Betroffene, die gläubig sind und gerne eine Segen hätten: „So nicht! Dann verzichte ich lieber.“ 

Welche nächsten, sinnvollen Schritte stehen Ihrer Meinung nach an?

MG:
Man soll nicht unterschätzen, wie segensreich auch eine Segen sein kann. Eine Segnungshandlung kann versöhnend wirken. Das kann Familienangehörige, die Differenzen erlebt haben, wieder neu miteinander versöhnen. Aber auch Menschen, die in der Kirche und durch sie verletzt worden sind, können in so eine Versöhnungssituation hineinfinden.

SJ: Was ansteht und noch aussteht, ist nicht eine Segnung durch die Hintertür, sondern eine Weiterentwicklung der Segensformen bis hin zu einer kirchlichen Trauung.

Wo haben Sie weiterhin Bedenken bzw. Vorbehalte gegen den Umgang mit gleichgeschlechtlichen Paaren?

MG:
Es ist noch viel zu tun. Wenn man mal Menschen verloren hat, ist es schwer, sie wieder zurückzugewinnen. Bei vielen queeren Menschen ist der Geduldsfaden inzwischen gerissen. CSD-Gottesdienste und Regenbogenfahnen sind ja ganz nett…, aber so fängt man die nicht einfach wieder ein. 

„Out in Church“ hat im Januar 2022 eine große öffentliche Aufmerksamkeit erlebt. Herr Gutfleisch, Sie gehörten auch dazu. Hat sich seitdem etwas verändert?

MG:
Als ich in der Vorbereitung in den Videokonferenzen und bei den Filmaufnahmen die vielen Leidensgeschichten der anderen gehört habe, hat mich das sehr angerührt und bei mir einiges zum Klingen gebracht. Dadurch entstand eine Nähe und Verbundenheit, die guttat. Die Resonanz war insgesamt gut. Es tut sich was. Wir werden viel von Pfarreien eingeladen, dürfen kommen und von unserer Situation berichten. Dabei stoßen wir auf Menschen, die aufrichtiges Interesse haben.

SJ: Das Thema ist mehr ins Bewusstsein gerückt und die sexuelle Diversität wird selbstverständlicher, aber auch wie viel Ungerechtigkeit da bisher gegenüber Menschen mit nicht-heterosexuellen Orientierungen passiert ist. 

Hat das Bistum die damals von Bischof Genn angekündigten Veränderungen eingeleitet? Können betroffene Mitarbeitende im Bistum z.B. sicher sein, bei einem Outing dienstrechtlich nicht belangt zu werden?

MG:
Was wir bisher hören, werden die Ankündigungen umgesetzt. Für viele ist dadurch eine Last abgefallen. Insgesamt scheint sich da langsam eine Normalität anzubahnen. Allerdings gibt es immer noch viele Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen, die sich nicht outen, weil sie „dem Braten noch nicht trauen“. 

Wie erleben Sie die Menschen und/ oder Christen in Ihrem Umfeld in Bezug auf Segensfeiern und OutInChurch?

SJ: 
Jüngere haben nicht den Eindruck, dass Kirche bei dem Thema Sexualität ernstzunehmen wäre. Bei den Älteren gibt es verschiedene Gruppen. Es gibt kritische, die darunter leiden, protestieren und den Wunsch nach Veränderung haben. Es gibt aber auch die, die sagen, wenn die Kirche das verbietet, dann muss da ja was dran sein. Es gibt aber auch so etwas wie einen gerechten Zorn wegen der Verletzungen, die sie durch Kirche bei der Sexualität erfahren haben.

MG: Ich kenne Menschen auch außerhalb der Kirche, die die kirchliche Sexualmoral als ungerecht ansehen, die sich dadurch verletzt fühlen, dass Homosexualität als Sünde bezeichnet wird. Auch bei meinen Eltern und ihrem Umfeld merke ich, dass die sich mit neuen Entwicklungen schwertun. Dieses Thema meiden sie lieber. 

Wenn Sie die Beratenden von Bischof Genn oder Papst Franziskus wären, was würden die von Ihnen lernen können oder zu hören bekommen?

SJ:
Den Papst würde ich gerne ermutigen, mehr auf die Liebe zu vertrauen und das Göttliche, das in der Liebe steckt. Die Liebe ist anarchisch und kann manche engen Gesetze sprengen. Es ist Gottes Geist, der in der Liebe in Bewegung ist.

MG: Das Leid, das queeren Menschen angetan wurde, muss ausgesprochen und anerkannt werden, sonst geht es nicht weg. Es fehlt ein Schritt: Der Bischof erklärt nicht, warum jetzt schwule und verheiratete Menschen eingestellt werden können. Es muss vor allem für die Älteren erklärt werden, was sich verändert hat und warum. Im kirchlichen Dienst wird zwar niemandem mehr gekündigt, wenn er queer ist. Doch es findet keine wirkliche Wertschätzung und Würdigung statt. Es fehlt eine Kultur der Diversität. In Zeiten des Fachkräftemangels ist das eigentlich nicht vertretbar. Da muss es dringend weitergehen. Die freie Wirtschaft ist da in vielen Bereichen schon weiter, davon sollte die Kirche dringend lernen. ■ Joachim van Eickels

#OutInChurch

#OutInChurch – Für eine Kirche ohne Angst (auch kurz Out in Church; englisch für „Coming-out in der Kirche“; mit Hashtag #) ist der Name einer Initiative und eines Manifests von queeren Menschen, die beruflich oder ehrenamtlich in der katholischen Kirche in Deutschland tätig sind. Am 24. Januar 2022 erklärten 125 Personen ihr gemeinsames Coming-out als lesbisch, schwul, bisexuell, transgender, intergeschlechtlich oder nichtbinär, um so „zur Erneuerung der Glaubwürdigkeit und Menschenfreundlichkeit der katholischen Kirche“ beizutragen

(Quelle: Wikipedia) #OutInChurch – Für eine Kirche ohne Angst


CSD-Gottesdienst in Recklinghausen „Gesegnete Vielfalt“

Freitag, 7. Juni 2024, 17 Uhr
Kirchplatz neben Sankt Peter in Recklinghausen

Evangelische Kirche, römisch-katholische Kirche, altkatholische Kirche, Vestischer CSD und Ökumenische Arbeitsgruppe Homosexuelle und Kirche laden alle, die mitfeiern möchten, herzlich zum Gottesdienst ein.