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Münster: „Eine Aufarbeitung in alleiniger Kirchenregie wird nicht zum Ziel führen“

Drei Betroffene werfen einen kritischen Blick auf den Stand der Dinge - vor einem Jahr wurde im Bistum Münster die Missbrauchsstudie vorgestellt

Bischof Dr. Felix Genn bei der Übergabe der Historikerstudie im Juni 2022. Foto: Lars Berg KNA

Vor einem Jahr wurde im Bistum Münster die Missbrauchsstudie vorgestellt. Im Anschluss hat die Bistumsleitung viele Veränderungen angekündigt. Wie kam das bei Betroffenen an und was hat sich aus Ihrer Sicht wirklich verändert - ein Gespräch mit den Betroffenen Peter Tenbusch, Hans Jürgen Hillen und Michael Hibben.

► Wie haben Sie die Veröffentlichung der Studie erlebt?
Peter Tenbusch:
Viele Betroffene fanden es gut, dass in der Studie endlich Klartext gesprochen wurde. Wie zum Beispiel im Fall des Pfarrers Pottbäcker, der ja auch Recklinghausen betrifft. In diesem speziellen Fall hat mich erschreckt, dass so ein Täter über Jahrzehnte Unterstützung bekommen hat. Daran wird deutlich, dass Entscheidungen von der Bistumsleitung immer wieder falsch getroffen wurden. Dahinter ist ein System zu erkennen. Und dieses System hat weiteren Missbrauch ermöglicht.
Hans Jürgen Hilling: Ich war im Beirat der Studie dabei. Sie hat einiges Licht in das Dunkel gebracht, gerade was die Vertuschungspraxis der Bischöfe, Generalvikare und Personalverantwortlichen angeht - die skandalös ist. Tatsächlich alle Bischöfe seit 1945 haben so agiert, allen voran Lettmann. Ich weiß aber auch, dass viele Betroffene und Gemeinden sich mehr von der Studie erhofft haben. Vor allem in Bezug auf die Täter- und Beschuldigtennennung. Dass nicht nur die Kleriker Mitwisser waren, sondern in Gemeinden Wissen vorhanden war, war mir klar. Dass das Wissen aber auch unter Laien in den Gemeinden so verbreitet war, hat mich dann doch überrascht.
Michael Hibben: Für mich war es wirklich erschreckend, welche Zahlen da vorgelegt wurden. Vor allem, wenn man dann noch überlegt, dass es eine große Dunkelziffer gibt. Am meisten erschrocken bin ich immer noch über das System der Vertuschung, dass dieses quasi von Bischof zu Bischof weiter vererbt wurde, dass der Schutz der Kirche so kategorisch über den Schutz der Betroffenen gestellt wurde.

"Für mich war es wirklich erschreckend, welche Zahlen da vorgelegt wurden."

► Können Sie im Bistum Münster seither Fortschritte bei der Aufarbeitung der Missbrauchsfälle feststellen?
Tenbusch:
Ich glaube schon, dass das Bistum grundsätzlich um Transparenz bemüht ist. Dennoch werden immer wieder handwerkliche Fehler gemacht. Mir fehlt zum Beispiel, dass das Bistum offen und aktiv auf die Gemeinden, die Priester dort und die Gremien zugeht und sagt: Hier gibt es noch eine versteckte Geschichte. Nur dann kann man vor Ort entscheiden, wie man damit umgeht.
Hilling: Man muss allerdings auch sehen, dass das Bistum dabei in einem ziemlich komplexen Geflecht von Rechten und Interessen zurecht kommen muss. Wir hören immer wieder von der Interventionsstelle, dass Betroffene nicht wünschen, dass "ihr Fall“ bekannt wird. Und dieser Wunsch ist nicht abwegig. Und natürlich muss man auch bei lebenden Beschuldigten deren Persönlichkeitsrechte achten.
Hibben: Meine Beobachtung ist auch, dass die Bistumsleitung ehrlich bemüht ist, Dinge zu ändern. Aber man muss auch realistisch sein. Die Verwaltungsstrukturen in der katholischen Kirche sind sehr träge. Außerdem gibt es auch bestimmte Themen, die nicht allein in Münster entschieden werden können. Wenn man die Lage aber nur aus Sicht der Betroffenen betrachtet, geht immer noch vieles viel zu langsam.

"Meine Beobachtung ist auch, dass die Bistumsleitung ehrlich bemüht ist, Dinge zu ändern."

► Wo hakt es zum Beispiel?
Hilling:
Es wurde angekündigt, die Einrichtung eines eigenen kirchlichen Verwaltungsgerichts prüfen zu lassen. Übrigens schon bevor die Studie im vergangenen Juni vorgelegt wurde. Das ist aber bis heute nicht erfolgt. Die Einrichtung wäre aber wichtig, weil sie eine wichtige Instanz darstellt, die auch von den von Missbrauch Betroffenen angerufen werden könnte, wenn es zum Beispiel um Akteneinsicht geht. Nun soll ein Kirchenrechtler prüfen, wie Bischof Genn das allein in Münster - ohne Abstimmung mit Rom und der Deutschen Bischofskonferenz - umsetzen kann.
Tenbusch: Daran sieht man, wie langsam es vorangeht. Es würde mit Sicherheit schneller etwas passieren, wenn von außen - durch staatliche Instanzen Druck ausgeübt würde, damit kirchenintern nicht immer wieder die Leute links und rechts ausbüxen können. Denn das ist das Problem bei diesen Prozessen.
Hibben: Aus meiner Sicht werden die Betroffenen hier tatsächlich vom Staat allein gelassen.

"Aus meiner Sicht werden die Betroffenen hier tatsächlich vom Staat allein gelassen."

► Was muss also passieren?
Hilling:
Eine Aufarbeitung in alleiniger Kirchenregie wird nicht zum Ziel führen. Daher ist unsere Forderung, dass eine staatliche Aufarbeitungsstelle mit staatsanwaltlichen Ermittlungsbefugnissen - unabhängig von der Frage der Verjährung von Delikten - eingerichtet wird. Leider duckt sich die Politik da auf Landes- und Bundesebene vollständig weg.
Tenbusch: Tatsächlich ist das Beharrungsvermögen der kirchlichen Strukturen so groß, dass es eine solche staatliche Stelle geben muss. Man hat ja noch nicht einmal in allen deutschen Bistümern eine Studie zur Aufarbeitung der Missbrauchsfälle in Auftrag gegeben. Regeln dazu muss es von außerhalb der Kirche geben. Eine solche Stelle müsste deutlich machen, wie man damit umzugehen hat, und welche Rechte die Betroffenen haben.

► Über ein Thema haben wir noch nicht gesprochen - was ist mit Entschädigungen für die Betroffenen?
Hilling:
Man kann derzeit den eigenen „Fall“ bei einer Entschädigungsstelle in Bonn vortragen. Dann bekommt man einen Leistungsbescheid, der aber nicht begründet ist. Das ist skandalös. Das führt nämlich dazu, dass man weder die Fälle noch die gezahlten Summen miteinander vergleichen kann. Auch werden nur "Zahlungen in Anerkennung des Leides“ gezahlt - nicht Schadenersatz und Schmerzensgeld, wie es allen Betroffenen zusteht. Bis vor einigen Wochen konnte man gegen die Bescheide nicht einmal ein Rechtsmittel einlegen. Das geht nun, es kommen dann aber wieder Bescheide ohne Begründung von derselben Stelle.
Wenn der Bischof von Münster Mut hätte und sich wirklich auf die Seite der Betroffenen stellen würde, würde er aus der Linie der Bischofskonferenz ausbrechen und sagen: „Ich verzichte auf Einrede der Verjährung.“ Dann könnten die Betroffenen staatliche Gerichte anrufen und ihre Rechte in einem fairen Verfahren geltend machen.

► Kennen Sie Summen, die gezahlt werden?
Hilling:
Nicht vollständig, die Zahlungen weichen oft in willkürlicher Weise in ähnlich gelagerten Fällen stark voneinander ab. Für Penetrationen von acht- bis vierzehnjährigen Kindern werden zum Teil Zahlungen in einer Höhe geleistet, die ich teils als beschämend empfinde.
Tenbusch: Zumal es Fälle gibt, in denen Menschen ihr ganzes Leben entglitten ist. Es gibt Betroffene, die nach 30 oder 40 Jahren immer noch Albträume haben.

"Es gibt Betroffene, die nach 30 oder 40 Jahren immer noch Albträume haben."

► Gemeinden sind durch Missbrauchsfälle entzweit worden - es gab diejenigen, die zum Täter gehalten haben und andere, die auf der Seite der Betroffenen waren - wie kann man sie wieder einen?
Tenbusch:
In Rhede haben wir es mit Hilfe eines Arbeitskreises aus Mitgliedern der Gemeindegremien und von Betroffenen unter der Leitung unseres Pfarrers geschafft, dass die Leute sprachfähig werden und heute offen miteinander diskutieren können. Das passiert durchaus kontrovers, aber wichtig ist, dies n passiert auf Augenhöhe und sachlich. In Rhede ist das durch Gesprächsrunden, Veranstaltungen und eine Ausstellung gelungen. Jürgen Bröker