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Deutsche Gesellschaft für Palliativmedizin: Begleitung bis zuletzt

Die Deutsche Gesellschaft für Palliativmedizin will Aufmerksamkeit schaffen. Aufmerksamkeit für ein Thema, das dringend eine Lobby braucht. Ein Interview dazu.

Palliativmedizin ist mehr als nur Sterbebegleitung. FOTO PR

Die Palliativstation des Dattelner St. Vincenz-Krankenhaus feiert fünfjahriges Bestehen - eine Bilanz.

„Du frierst, und viele werden sagen: Es ist nicht kalt! Du hast Angst, und viele werden sagen: Hab‘ nur Mut! Du bist allein, und viele werden sagen: Jetzt… keine Zeit! Doch manchmal ist da jemand, der sagt: Nimm meinen Mantel und meine Hand und lass‘ mich dich ein Stück begleiten ... Jetzt!“ Dieses Zitat von Angela Sattler ist einer der Leitsprüche von Sandra Weis. Die 48-Jährige ist die oberärztliche Leiterin der Palliativstation im Dattelner St. Vincenz-Krankenhaus. Nächstes Jahr wird hier fünfjähriges Bestehen gefeiert. Medio hat das zum Anlass genommen, eine kleine Bilanz zu ziehen und im Interview mit Weis mit Vorurteilen aufzuräumen. 

Frau Weis, die Deutsche Gesellschaft für Palliativmedizin (DGP) schreibt auf ihrer Internetseite zu der Frage, was Palliativmedizin überhaupt ist, etwas provokativ: „Nochmal im Wald spazieren gehen, bevor wir in die ewigen Jagdgründe eintreten.“ Ist der Gedanke, noch einmal Salat zu essen, bevor man die Radieschen von unten sieht, wirklich das, was die Palliativmedizin, die Sie in Datteln betreiben, ausmacht?

Ich denke, die DGP möchte aufmerksam machen. Aufmerksam auf ein Thema, das unbedingt eine Lobby braucht, weil es in unserer Gesellschaft nicht mehr als natürlicher Teil des Lebens verankert und oft mit vielen Tabus und falschen Vorstellungen vergesellschaftet ist. Was für unsere Arbeit hier in Datteln ganz wichtig ist: Wir wollen nicht als Sterbemedizin (miss)verstanden werden, auch wenn das in den Köpfen so drin steckt, deshalb finde ich das Gedicht von Angela Sattler auch so treffend, weil es das, was wir für Patienten und Angehörige leisten möchten, sehr gut in Worte fasst. 


Aber die Sterbebegleitung ist schon auch Ihre Aufgabe, oder?

Natürlich ist Sterbebegleitung ein Teil der Arbeit auf unserer Palliativstation, ebenso wie das medizinische Know-how, aber eben nicht nur. Bei dem Wort „Palliation“ bekommen viele Menschen Panik und hegen den Gedanken: „Jetzt ist alles vorbei.“ Diese Panik muss ich oft in langen Gesprächen erst einmal nehmen. Denn unsere Philosophie war von Anfang an eine völlig andere: Wir wollen nicht erst im letzten Moment, sondern lange Zeit begleiten und die Situation für alle Beteiligten besser machen, indem wir das Hamsterrad von Therapien, Sorgen, finanziellen Belastungen, fehlender Orientierung und oft fehlender Transparenz auf vielen Seiten durchbrechen möchten, um so eine Grundlage für eine gute Zusammenarbeit mit Patient und Zugehörigen zu schaffen.


Haben Sie ein konkretes Beispiel?

Patienten werden oft in Watte gepackt und von Diskussionen oder Problemen ferngehalten. Wir stehen für eine offene Kommunikation, in der Dinge auch klar ausgesprochen werden. Dies mag im ersten Moment oft brutal erscheinen, hilft aber dem Patienten, seine Situation einschätzen und für ihn gute Entscheidungen treffen zu können. Auch der oft innerfamiliäre Druck, Sorgen und Ängste untereinander nicht offen aussprechen zu können, kann dadurch bedeutend gemindert werden und Patienten und Angehörigen helfen, in dieser oft schwierigen Zeit besser miteinander zu kommunizieren und die Zeit gut zu nutzen. Auch die Kommunikation unter den Patienten kann sehr hilfreich sein. Deshalb haben wir uns ganz bewusst für zwei Doppelzimmer entschieden, denn viele Betroffene möchten nicht immer alleine liegen und profitieren von den Erfahrungen der Anderen. Die Erfahrung zeigt: Viele möchten ihr Schicksal teilen. Da wirkt das Gespräch mit dem Bettnachbarn oder der Bettnachbarin wie Balsam für die Seele. Wie in einer Selbsthilfegruppe, in der man die Ängste der anderen versteht. Hier können die Patienten quasi Urlaub von sich selbst machen.


Neben den zwei Doppelzimmern, die Sie eben ansprachen, haben Sie auch zwei Einzelzimmer. Reicht das aus?

Seit unsere Station 2020 kernsaniert und neu eröffnet wurde, sind wir zu 100 Prozent belegt und bekommen immer wieder Anfragen - auch aus umliegenden Häusern. Der Bedarf ist auf jeden Fall da.


Der Urlaub von sich selbst gelingt bei Ihnen auf der Station mit unterschiedlichen ganzheitlichen Methoden wie Aromapflege, Entspannungsübungen und dem sogenannten Snoezelen. Sie haben jetzt aber noch einmal eine Schippe draufgelegt?

Die Aromapflege ist und bleibt ein großes Standbein. Außerdem haben wir das physiotherapeutische Angebot ausgeweitet, etwa auf eine Polioneuropathie-Strecke. Das ist wie ein Sinnespfad, den viele auch von draußen kennen - nur eben bei uns auch in den Zimmern einsetzbar. Wir haben zudem die Möglichkeit, den Patienten und deren Zugehörigen ein Fotoshooting anzubieten. Oft wünschen sich Angehörige noch schöne Bilder mit ihren Lieben und ein professionelles Shooting, das bei Bedarf auf der Station gemacht werden kann, bringt erfahrungsgemäß wunderschöne Momente. Und: Von Spendengeldern konnten wir einen sogenannten Caretable, einen digitalen Aktivitätentisch, anschaffen, der wie ein Mega-Tablet funktioniert. Hinterlegt sind beispielsweise Tools für Gesellschaftsspiele wie Schach oder Mensch-ärgere-dich-nicht, aber auch für Städtereisen. Wir können aber auch eigene, private USB-Sticks zum Beispiel mit alten Fotos und Erinnerungen anschließen. 


Das erinnert an das Qwiek-up-System, das Sie als eines der ersten Krankenhäuser bundesweit eingesetzt hatten, um den Betroffenen und ihren Angehörigen in Corona-Zeiten Videotelefonie zu ermöglichen?


Videotelefonie ist damit ohne Endgerät möglich. Sprich: Kein Patient auf unserer Palliativstation muss ein Smartphone benutzen (können), um seine Angehörigen in Großaufnahme und Echtzeit zu sehen. Die Angehörigen wählen sich über einen Code in das Gerät ein und der Patient vor Ort sitzt im gemütlichen Raum und sieht seine Lieben wie am eigenen Wohnzimmertisch, selbst, wenn sie weit weg wohnen. Deshalb haben wir mit dem Caretable jetzt auf zwei Systeme parallel aufgestockt. Ursprünglich stammt der Einsatz eines solchen Aktivitätentisches übrigens aus dem Pflege- und Demenzbereich und auch da sind wir Vorreiter im Bereich der Palliativmedizin. All diese Anschaffungen, ob ein Massagestuhl zur Entlastung der Angehörigen, der Qwiek-up, der Caretable oder viele kleine Dinge, wie ein Adventskalender in der Adventszeit, sind nur möglich mit Hilfe von Spenden. An dieser Stelle möchte ich allen, die uns finanziell oder auf andere Art und Weise unterstützen, herzlich danken. Ina Fischer