Es gibt Ereignisse, die fest im Gedächtnis verankert bleiben. Dazu gehören in der Kind- und Jugendzeit die Ermordung John F. Kennedys (1963), der Sechstagekrieg gegen Israel (1967), die Niederschlagung des „Prager Frühlings“ (1968) und die Mondlandung (1969). Später erinnere ich mich an den Aufsehen erregenden Besuch von Johannes Paul II. im kommunistischen Polen (1979).
Damit begann eine Entwicklung, zu deren Höhepunkten der 9. November 1989 gehörte: Mit einer städtischen Delegation war ich an dem Tag Teilnehmer des Treffens der „Gemeinden für den Frieden“ in Mainz. Nach einem kurzen Frühstück gab es erst abends wieder ein Essen und das beim Kulturprogramm in der Sektkellerei Kupferberg“ – umfangreichste Kostproben einbegriffen. So suchte ich um Mitternacht im Hotel nur das Bett, schaltete aber „kurz“ den Fernseher an: Was ich dann sah, war unglaublich überwältigend. Stundenlang sah ich Bilder, die wir in unserem Leben nicht mehr erwartet hatten. Auch emotional nahm es mich mit: Seit der Studienzeit war die DDR für mich mit menschlichen Schicksalen verbunden, mit Menschen, die Angst haben mussten, wenn unsere gemeinsamen Urlaube auf Campingplätzen in Polen oder Ungarn aufgeflogen wären. Mit Menschen, die wegen „Republikflucht“ in der berüchtigten Zuchthaus Bautzen saßen, Menschen, die nach Ausreiseanträgen“ diskriminiert wurden.
Politisch schien uns der „Eiserne Vorhang“, der die Demokratien von den Diktaturen trennte, doch zementiert. Freiheitsbewegungen in der DDR (1953), in Ungarn (1954) oder der CSSR (1968) waren brutal von russischen Truppen niedergeschlagen worden. Für viele „Westdeutsche“ lagen die Provence, Mallorca oder die Toskana „mental“ näher als Thüringen oder Dresden: Der Feiertag zum Gedenken an den Volksaufstand am 17. Juni 1953 gehörte zu den beliebtesten Ausflugs- und Shoppingterminen in Holland und der Appell von US-Präsident Reagan 1987 in Berlin „Mr. Gorbatschow open the wall“ wurde von vielen belächelt oder gar abgelehnt.
Dabei gab es erste Anzeichen für Veränderungen. Zehn Millionen Polen hatten mit ihrer Teilnahme am Papstbesuch den Führungsanspruch der Partei in Frage gestellt. Ein Jahr später folgte 1980 der Streikbewegung die Gründung der unabhängigen Gewerkschaft Solidarnosc. In der DDR schlossen sich mehr Menschen den bis dahin kleinen Friedensgruppen in Kirchen an. KPdSU-Generalsekretär Michael Gorbatschow versuchte mit dem Ruf von „Perestroika“ das Sowjet-Imperium zu reformieren.
Die SED-Führung blieb davon allerdings unberührt. Das hatte auch der Rat der Stadt Recklinghausen am 16. September 1989 zu spüren bekommen. Da fand der erste Festakt zur Städtepartnerschaft mit Schmalkalden statt. Bürgermeister Schuberts (SED) Rede bezog sich weniger auf die Partnerschaft, sondern entsprach eher der Diktion des Kalten Krieges. So warf er unseren Politikern und Medien „Heuchelei“, anmaßende Beschuldigungen“ vor, sowie „Falschmeldungen“ und „gewissenlose Frontberichterstattung“. Fassungslos beobachteten die Recklinghäuser zudem, dass seine Delegationsmitglieder Kontrollaufzeichnungen über seine und andere Ansprachen machten. Erst später erfuhr man, dass die Rede von den Berliner Staatsorganen“ formuliert und ihre Verlesung angeordnet worden war.
Im folgenden Monat wurde die Diskrepanz zwischen dem angeordneten Staatsjubel zur 40-Jahr-Feier der DDR und den Protestaktionen auf den Straßen immer gravierender. Aus den Friedensgebeten in der Leipziger Kirche entwickelte sich eine friedliche Revolution, die am 9. Oktober mit dem Gang von 70.000 Einwohnern durch die Innenstadt eindrucksvoll die Stärke der Demokratiebewegung („Wir sind das Volk“) belegte und dies trotz der Drohkulissen massiver Aufmärsche bewaffneter Volkspolizei und Betriebskampfgruppen. Anfragen der SED-Führung um Unterstützung durch russische Truppen waren abgelehnt worden. Zudem wuchs die Ausreisewelle über die bundesdeutschen Botschaften und Ungarn war der erste „sozialistische Bruderstaat“, der seinerseits Westgrenzen (auch für Flüchtende aus der DDR) öffnete. Die Verunsicherung des Machtapparats führte zur Ablösung Erich Honeckers durch Egon Krenz, einem bekannten Apparatschik. Das konnte den Autoritäts- und Glaubwürdigkeitsverlust der Parteidiktatur aber nicht mehr aufhalten.
Um ein Ventil zu öffnen, waren offenbar staatlich kontrollierte Grenzübergänge geplant. Dass ein Versprecher auf einer Pressekonferenz („Gültigkeit sofort“) zum Kollaps von Mauer und Schießbefehl führte, war mehr als ein Zufall: Es war die durch den Verlauf der friedlichen Revolution entstandene Entschlossenheit der Bevölkerung, die an diesem Tag die sofortige Öffnung der Grenze einforderte und ertrotzte. Und mitten im Geschehen waren auch wir: Bei der vereinbarten offiziellen Partnerschaftsfeier in Thüringen am 9. Dezember 1989 waren nun Entschuldigungen und Herzlichkeit angesagt. Ab November hatte die Marktkirche St. Georg Gesprächsrunden auch mit der SED-Führung initiiert – aber noch gab es „Zuführungen“ durch den Staatssicherheitsdienst. Wenige Tage vor unserem Besuch war dann die Stasi-Zentrale der Kleinstadt gestürmt worden, weil die Aktenvernichtung befürchtet wurde. Für beide Städte begann eine enge Zusammenarbeit mit dem Austausch von Verwaltungsbeamten, mit Hilfslieferungen vor allem für die marode medizinische Versorgung und vielen menschlichen Begegnungen.
Hundertausende waren aufgestanden, hatten ihre Rechte eingefordert und wahrgenommen. Eine einzigartige Revolution: friedlich und erfolgreich. Erfolgreich für die Freiheitsgeschichte Deutschlands, Europas und der Welt. In ganz Mittel- und Osteuropa setzte sich die Freiheitsbewegung durch, im Baltikum mit der berühmten Menschenkette quer durch alle drei Länder. In Riga und Wilna gab es aber noch Gewalt und Tote. Dies galt und gilt vor allem für die Ukraine, nachdem der KGB-Offizier Putin die Macht in Moskau übernommen hatte. Die Entscheidung der Bevölkerung für die Freiheit bezahlt sie bis heute seit 2014 mit der Besetzung von Landesteilen und seit 2022 mit dem brutalen Krieg gegen die Zivilbevölkerung.
Georg Möllers
INFO
Literatur:
Partner in der Friedlichen Revolution 1989/90
Schmalkalden – Recklinghausen
Winkelmann Verlag, Recklinghausen 2014
Veranstaltung:
Der 9. November – ein deutsches Schicksalsdatum
1918-1923-1938 - 1989
9. November 2024, 16 Uhr, Volkshochschule