Karl-Josef Laumann, Minister für Arbeit, Gesundheit und Soziales des Landes Nordrhein-Westfalen, hat dem Diözesanfachausschuss „Arbeit und Soziales" im Rahmen ihrer Themenreihe zur Sozialwahl 2023 dieses Interview gegeben:
► Die Sozialwahl ist in Bezug auf die Wahlberechtigten nach der Bundestags- und Europawahl die drittgrößte Wahl in Deutschland. Warum ist die Sozialwahl dennoch in weiten Bevölkerungsteilen so unbekannt und wie könnte ihre Bekanntheit erhöht werden?
Den Bekanntheitsgrad einer Wahl kann man nicht unbedingt alleine an der Wahlbeteiligung messen. Wenn man danach geht, ist die Sozialwahl - und da haben Sie recht - relativ wenig bekannt. Der höchste Wert der Wahlbeteiligung lag im Jahr 1986 bei 43,78 Prozent. Seitdem ist die Wahlbeteiligung immer weiter gesunken. Allerdings konnte bei der letzten Sozialversicherungswahl im Jahr 2017 immerhin erstmals wieder ein leichter Anstieg der Wahlbeteiligung verzeichnet werden: Sie lag damals bei 30,42 Prozent. Offenbar wissen viele Menschen nichts mit der Sozialwahl und dem Briefumschlag mit den Wahlunterlagen anzufangen, der alle paar Jahre ins Haus flattert.
Daneben gibt es aber noch weitere Gründe: Viele Menschen kennen die Selbstverwaltungsgremien der Sozialversicherungsträger nicht und wissen auch nicht, was diese tun. Gegen diese Informationsdefizite kann man nur mit kontinuierlicher Öffentlichkeitsarbeit etwas erreichen. Informationsangebote gibt es bereits. Diese Informationen werden aber wahrscheinlich nur dann gefunden, wenn jemand schon konkret danach sucht. Um mit der Öffentlichkeitsarbeit aber auch Menschen zu erreichen, die sich zuvor noch nie mit dem Thema beschäftigt haben, bieten sich aus meiner Sicht insbesondere die Social-Media-Kanäle an. So plant beispielsweise die Landeswahlbeauftragte für die Durchführung der Sozialversicherungswahlen in Nordrhein-Westfalen, im nächsten Jahr auf diesem Wege für eine Teilnahme an der Wahl zu werben.
Genauso wichtig sind aber auch Informationen in leichter Sprache, um Menschen mit Behinderung oder Personen, die nicht so gut Deutsch sprechen, zu erreichen. Ansonsten sind die Möglichkeiten, „Werbung" für die Sozialversicherungswahlen zu machen, sehr begrenzt. Die Wahlbeauftragten des Bundes und der Länder haben kaum oder kein eigenes Budget dafür. Die Kampagnen werden deshalb von den Sozialversicherungsträgern bezahlt. Insofern ist die Öffentlichkeitsarbeit, die von den anderen gesellschaftlichen Akteuren wie den Gewerkschaften und den christlichen Verbänden geleistet wird, sehr wertvoll.
Abgesehen davon kann im nächsten Jahr bei den Krankenkassen auch online am Computer gewählt werden. Ich bin gespannt, wie sich das auf die Wahlbeteiligung auswirkt. Es geht aber nicht nur um Information, die Sozialwahl muss nicht nur bekannter werden, die Menschen müssen auch wählen. Weil die Sozialwahl für sie wichtig ist, weil sie von ihrem Mitbestimmungsrecht Gebrauch machen wollen und davon überzeugt sind, etwas bewirken zu können. Viel wichtiger ist deshalb in diesem Kontext die Frage, welche Einflussmöglichkeiten die Selbstverwaltung hat. Aus meiner Sicht haben sich die Einflussmöglichkeiten der Selbstverwaltung in den letzten Jahrzehnten vielfach verschlechtert.
Dabei denke ich weniger an die Pflegeversicherung, wo zumindest noch auf Bundesebene viel über die Selbstverwaltung gestaltet werden kann. Aber wie weit reichen diese Einflussmöglichkeiten in den anderen Zweigen der Sozialversicherung und vor allem auf regionaler Ebene? Ich bin der Auffassung, dass es da noch viel Luft nach oben gibt und ich wünsche mir, dass Selbstverwaltungen ihre Einflussmöglichkeiten noch mehr und konsequenter wahrnehmen. Und das geht umso besser, je mehr Versicherte durch ihre Wahlen hinter den Selbstverwaltungsgremien stehen.
► Bei allen gesetzlichen Sozialversicherungen finden Ende Mai 2023 Sozialwahlen unabhängig vom Wahlverfahren statt. Warum ist das ehrenamtliche Engagement in den Gremien der Sozialen Selbstverwaltung so wichtig?
Die Sozialgesetze geben nur den Rahmen für die Tätigkeit der Sozialversicherungsträger vor. Wie dieser Rahmen ausgefüllt wird, entscheiden die Selbstverwaltungsgremien. Vielleicht kann man sagen, dass die Selbstverwaltung Menschlichkeit in die Entscheidungen der Sozialversicherungsträger bringt. Es sollen nicht nur einfach Paragrafen angewendet werden, sondern es soll der Mensch, der oder die Versicherte, im Mittelpunkt stehen.
► Was antworten Sie jemandem, der Ihnen sagt, dass die Sozialwahl nicht wichtig sei und er deshalb nicht wähle?
Das Thema ist zugegebenermaßen ein bisschen sperrig und für die meisten Menschen ziemlich weit weg. Die meisten wissen ja gar nicht, was in den Selbstverwaltungsgremien passiert. Deswegen sind konkrete Beispiele vielleicht am besten geeignet, um die Bedeutung der Sozialwahlen zu verdeutlichen: Die von den Versicherten gewählten Vertreterinnen und Vertreter kontrollieren zum Beispiel die Verwaltungen der Sozialversicherungsträger und bestimmen, wie im konkreten Einzelfall über von den Versicherten eingelegte Widersprüche entschieden wird. In der gesetzlichen Rentenversicherung kann die Vertreterversammlung unter anderem darüber entscheiden, wie die Kliniken ihr Reha-Angebot gestalten.
Und: Die Selbstverwaltung ist gelebte Demokratie, weil die Versicherten ihre Vertreterinnen und Vertreter selbst wählen - im Bundestag genauso wie in der Sozialversicherung. Die Vertreterversammlungen der Träger werden nicht umsonst auch „Versichertenparlamente" genannt. Aber Demokratie lebt davon, dass die Menschen mitmachen, jede und jeder Einzelne. Wir sehen an vielen Orten auf der Welt, dass Menschen für und um Demokratie kämpfen. Jede Möglichkeit der Mitbestimmung, jede Wahl die man hat, sollte genutzt werden. Die Alternative zur Wahl wäre die Bestimmung der Mitglieder durch die Aufsichtsbehörden. Ich glaube, dass das niemand ernsthaft wollen kann.
► Welchen Stellenwert räumen Sie den christlichen Sozialverbänden, wie dem Kolpingwerk, im Wettbewerb mit anderen Arbeitnehmerorganisationen bei den Sozialwahlen und bei der Mitwirkung in den Gremien der Sozialen Selbstverwaltung ein?
Die Gewerkschaften sind natürlich schon allein aufgrund ihrer Mitgliederzahlen traditionell die größten Player. Aber im Sinne der Vielfalt und als Spiegelbild der Gesellschaft begrüße ich es sehr, wenn sich Menschen auch anderweitig organisieren und ihren gemeinsamen Anliegen Ausdruck verleihen. Im Übrigen haben die christlichen Sozialverbände in der sozialen Selbstverwaltung eine gute und lange Geschichte.
► Welche zukünftigen Veränderungen würden Sie sich in Bezug auf die Soziale Selbstverwaltung und die Sozialwahlen wünschen?
Neben mehr Wahlbeteiligung würde ich mir auch mehr Vielfalt in den Selbstverwaltungsgremien wünschen, damit sie die gesamte Gesellschaft abbilden. Der durchschnittliche Anteil von Frauen in den Verwaltungsräten und Vertreterversammlungen beträgt nur 22,6%. Hier wird hoffentlich die neue Geschlechterquote helfen, die dieses Jahr zum ersten Mal zur Anwendung kommt: Viele Organisationen müssen mindestens 40 % Frauen auf ihre Wahllisten setzen.
Mehr Vielfalt bedeutet aber auch mehr jüngere Menschen, mehr Menschen mit Behinderungen oder mehr Menschen mit Migrationshintergrund. Die Landeswahlbeauftragte in Nordrhein-Westfalen hat die großen Vereinigungen, die üblicherweise die Mitglieder der Selbstverwaltung stellen, deshalb dazu aufgerufen, sich für mehr Vielfalt einzusetzen und gezielt unterrepräsentierte Gruppen anzusprechen. Gemeinsam mit der Beauftragten für die Belange von Menschen mit Behinderungen wird auch daran gearbeitet, mehr Menschen mit einer Behinderung zu erreichen und zu informieren, damit diese ebenfalls wählen oder sich vielleicht sogar aufstellen lassen.
Vielen Dank, Herr Minister Laumann, für Ihr aufschlussreichen Interview und die sehr Informationen zu dieser wichtigen Wahl in 2023.
Sebastian Kavermann, für den DFA ,,Arbeit und Soziales"