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Die Telefonseelsorge im Kreis Recklinghausen: „Ich bin jetzt für dich da!“

Der Anschluss für Menschen in Lebenskrisen: Rund-um-die-Uhr-Hilfe, erreichbar per Telefon (0800-1110111) und Chat für Ängste, Suizidprävention und Lebenshilfe

Gunhild Vestner, Leiterin der Telefonseelsorge Recklinghausen Foto: Telefonseelsorge Recklinghausen
Gunhild Vestner, Leiterin der Telefonseelsorge Recklinghausen Foto: Telefonseelsorge Recklinghausen

0800-1110111. Mehr als 14.000 Mal wählten Menschen im Vest im vergangenen Jahr diese Nummer. Tag und Nacht, sieben Tage die Woche sprachen sie mit einem der rund 100 ehrenamtlichen Telefonseelsorgerinnen und Telefonseelsorgern in Recklinghausen über ihre Ängste, Nöte, Lebenskrisen.


Jede Krise hat ihr Gesicht: Einsamkeit, ein Schicksalsschlag, der Konflikt in der Familie, eine psychische oder physische Erkrankung, eine depressive Verstimmung oder der Gedanke an Suizid. Doch egal, woran es liegt: Erst einmal ist das Wichtigste, den Anrufer in seiner Lebenssituation zu würdigen. Sie oder ihn ernst zu nehmen. Zuzuhören und emotional zu stabilisieren. Gunhild Vestner, seit mehr als zwei Jahrzehnten hauptamtliche Leiterin der Recklinghäuser Telefonseelsorge, bringt es auf den Punkt: „Ich bin jetzt für dich da! Du bist wichtig! Du bist mehr als deine Krise! Wir praktizieren Gottes Auftrag, für den Nächsten da zu sein, am Telefon.“ Wenn Menschen in einer Krise merken, sie sind nicht allein, sänken die Stresshormone signifikant. Sie könnten durchatmen.


Manchmal werden Perspektiven sichtbar. Die Telefonseelsorger unterstützen dabei, die eigenen Ressourcen wahrzunehmen und zu spüren: Was tut mir gut? Die Selbstfürsorge ist ein wichtiger Baustein“, erklärt Vestner, die evangelische Theologie studiert und danach Berufserfahrungen in der therapeutischen Seelsorge gesammelt hat. Viele nehmen ihr Leben dunkelgrau wahr. Wir lenken den Blick auf die hellgrauen Schattierungen und fragen die Menschen, was sie selbst dazu beitragen können, dass das Grau heller wird.“


Studien zeigen, dass beispielsweise Bewegung in der Natur erheblich depressive Verstimmungen verbessern kann. Darüber hinaus helfen die Telefonseelsorger mit Kontakten zu passenden Beratungsangeboten.

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Seit 2008 bietet die Telefonseelsorge in Recklinghausen auch einen Chat an.„Der Chat ist viel härter als das Telefongespräch. Es geht wesentlich häufiger um Suizid, die Menschen kommen direkter und schneller auf den Punkt. Das Hemmnis entfällt, darüber reden zu müssen“, beschreibt Vestner den Unterschied. Oftmals seien es Mädchen und junge Frauen, die sich per Chat meldeten. Eine weitere Herausforderung: die Informationsarmut des schriftlichen Mediums zu kompensieren. Während die Seelsorger am Hörer allein mit ihrer Stimmlage eine angenehme Atmosphäre schaffen können, müssen im Chat zum Beispiel Emoticons helfen, Smileys oder andere positiv besetzte Zeichen.


Ob Chat oder Anruf, beides müssen die Seelsorger beherrschen. In einer anderthalb Jahre währenden Grundausbildung, die 250 Unterrichtsstunden umfasst, durchlaufen die Ehrenamtlichen drei Phasen. Selbsterfahrung: Durch welche Krisen bin ich persönlich gegangen, welche Vorerfahrungen bringe ich mit? „Wichtig ist, die eigenen Themen von den Themen der Anrufenden trennen zu können - allein der Anrufer steht mit seiner Krise im Mittelpunkt“, erläutert Vestner. Es folgen die Techniken der Gesprächsführung und abschließend die Praxisphase. Es dauert also, bis jemand am Telefon helfen kann. „Wir wollen eine hohe Qualität sicherstellen.“


Selbst wenn es ausreichend und sogar teilweise mehr Bewerber gibt, als Ausbildungsplätze vorhanden sind, der Bedarf ist deutlich höher.„Man braucht Geduld. Im Durchschnitt müssen die Menschen fünfmal anrufen, bevor sie zu einem Gesprächspartner durchkommen“, sagt Vestner. Durch die Zusammenarbeit mit anderen Stellen der Telefonseelsorge, wie Münster oder Bielefeld, an die Anrufe weitergeleitet werden, konnte zuletzt die Erreichbarkeit erhöht werden.


Für die Suizidprävention ist eine gute Erreichbarkeit wichtig. Um junge Menschen für die Suizidprävention zu sensibilisieren, sind Telefonseelsorgerinnen regelmäßig zu Besuch in Klassen des Berufskollegs am Kuniberg. Dabei lernen die Schülerinnen und Schüler, dass es sich lohnt, Menschen anzusprechen, wenn sie den Verdacht haben, es könnte jemandem nicht gutgehen. Außerdem erhalten sie die Empfehlung, die App „Mein Krisenkompass“ auf ihr eigenes Smartphone runterzuladen. Mit wenigen Klicks öffnet sich ein Kompass, der Hilfestellungen in schwierigen Lebenslagen bietet, wie eine Liste an Warnzeichen für eine Krise, Kontaktdaten zu Anlaufstellen, die Möglichkeit, seine Gefühle in einem Barometer zu erfassen und natürlich auch die Nummer der Telefonseelsorge, die bundesweit einheitlich ist: 0800-1110111.

Dr. Christine Walther