Die Raphael-Schule als Förderschule für geistige Entwicklung ist über die Grenzen unserer Stadt hinaus eine angesehene Instanz. Und doch ist auch sie indirekt gemeint, wenn das Deutsche Institut für Menschenrechte die Förderschulen in Deutschland als Hindernisse für eine erfolgreiche Inklusion ansieht. Für die UN überwacht das Institut die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention. Schulleiterin Martina Werfling äußert sich auch dazu in ihrem Interview für geistREich.
Warum steigen Ihre Schülerzahlen, wenn doch die Entwicklung der Pränataldiagnostik auch andere Schlüsse zuließe?
Manche Eltern entscheiden sich aus ethischen Gründen bewusst für ihr behindertes Kind. Anderen scheint auch ein Kind an sich wichtiger zu sein, als allein das perfekte Kind. Doch die Situation ist weitaus komplexer.
Martina Werfling
• Geboren in Waltrop
• Verheiratet, eine (erwachsene) Tochter
• Seit 1986 Förderschullehrerin an der Raphael-Schule
• Von 1996 – 2004 abgeordnet in das Gemeinsame Lernen an der Forellschule in RE
• Seit 2013 Konrektorin an der Raphael-Schule
• Seit 2022 Schulleiterin
• Ich mag: Wandern und Fahrradfahren, mit Freunden kochen, lesen. Ich interessiere mich für Theater, Kino und kulturelle Veranstaltungen/Ausstellungen
An was denken Sie dabei?
Auch die intensivmedizinische Begleitung der Schwangeren und der Frühgeborenen hat sich weiterentwickelt. Viele Säuglinge überleben, die früher keine Chance gehabt hätten. Die Ärzte und Ärztinnen unternehmen viel, dass diese Kinder gesund leben können. Nicht in allen Fällen gelingt das. Weiterhin ist die gesellschaftliche Situation schwieriger geworden. Kinder wachsen heute anders auf als noch vor wenigen Jahrzehnten. Weltweit lässt sich eine Zunahme autistischer Verhaltensweisen feststellen. Diese Kinder sind oft nur schwer in soziale Kontexte zu integrieren.
Stellen Sie auch einen Einfluss durch Migration fest?
Der Zuzug von Menschen aus anderen Teilen der Welt hat die Zahl der Kinder in Deutschland in den vergangenen Jahren deutlich erhöht. Gerade aus der Ukraine kommen seit dem vergangenen Jahr vor allem Mütter mit ihren Kindern. Da ist es naheliegend, dass auch eine zunehmende Zahl in unsere Schule aufgenommen wird.
2011 trat in der EU die Behindertenkonvention der Vereinten Nationen in Kraft. Hatte das Einfluss auf die Situation in Ihrer Schule?
Die UN-Konvention hat zu einigen Veränderungen in der Schullandschaft geführt. Es wurden Förderschulen aus dem Bereich der Lernbehinderung (LB) geschlossen. Die Schulen mit Schwerpunkt geistiger Entwicklung (GE) hatten allerdings eine Bestandsgarantie. Schwächere LB-Schüler kamen auch an unsere Schule und haben unsere Schülerzahlen ansteigen lassen. Die besseren Schüler wechselten dann in das Gemeinsame Lernen an Regelschulen. Auch von der Raphael-Schule wechseln Kinder in das inklusive Lernen.
Nach welchen Kriterien entscheiden sich die Eltern?
Einige belassen ihre Kinder in der Förderschule, weil Ihnen das geschützte Lernen und die individuelle Förderung sehr wichtig sind. Anderen bedeutet es mehr, dass ihre Kinder gemeinsam mit den Geschwistern und den Nachbarskindern zur Schule gehen. Ich kann das nachvollzuziehen. Wir haben hier auch Rückläufe aus dem Gemeinsamen Lernen, weil hin und wieder eben auch Verhaltensbesonderheiten das nahelegen.
Welche Vorteile bringt die Erweiterung auf den Standort Wasserbank?
Vor sieben Jahren stiegen die Schülerzahlen so immens, sodass für diesen Standort ein Ausbau geplant wurde. Die Berufspraxis-Stufe zog zur Überbrückung in die Container an der Josef-Wulff-Straße. Durch den Ukraine-Krieg wurden die Baukosten so hoch, dass der Ausbau verworfen wurde. Außerdem waren die Schülerzahlen noch weiter gestiegen und der Neubau hätte nicht mal gereicht. So war die Wasserbank für uns ein Glücksfall.
Wie ist der innere Zusammenhalt der Standorte über die Distanz gesichert?
Unser Anspruch ist es, eine Schule zu bleiben. Der Raphael-Spirit wird nicht einfach so da sein. Dafür müssen wir kämpfen im Wissen darum, dass sich das nicht hundertprozentig übertragen lässt. Wir machen Konferenzen im Wechsel hier und dort. Wir planen viele Anlässe, die für alle stattfinden, wie zum Beispiel Projektwochen für die ganze Schulgemeinschaft. Dazu haben wir eine Arbeitsgruppe, die am inneren Zusammenhalt arbeitet.
Würden Sie sagen, dass sich durch die UN-Behindertenrechtskonvention die Chancengleichheit in Deutschland erhöht hat?
Es ist gut, dass die Konvention sehr deutlich betont hat, dass Menschen mit Behinderung die gleichen Rechte haben wie Menschen ohne Behinderung. Gesellschaftlich hat sich zum Beispiel ein Begriff wie Barrierefreiheit etabliert, wie das vor 20 bis 30 Jahren noch nicht der Fall war. Für mich ist allerdings schwierig, dass sich der Arbeits- und Bildungsbegriff der Konvention so sehr an Normen orientiert. Sie hat sich nicht geöffnet für andere Aspekte. Wir haben hier die Schulpflicht auch für Schwerstmehrfachbehinderte. In anderen Ländern, die sagen, wir haben Inklusion, werden Schwerstbehinderte aber nicht beschult. Es ist für mich eine Abwertung zu sagen, wer sich für ein spezielles System einsetzt, widerspricht den Menschenrechten.
Im Gegenteil: Wer sagt, ich möchte die bestmögliche Förderung für jedes Kind, für jeden Menschen, der ist wesentlich stärker dem integrativen-inklusiven Gedanken verpflichtet, auch wenn es sich um spezialisierte Einrichtungen handelt. Warum gelten Förderschulen nicht als allgemeinbildende Schulen? Genauso ist es im Beruflichen: Der erste Arbeitsmarkt ist ein wichtiges Ziel. Uns gelingt es besser, Schüler*innen auf den Ersten Arbeitsmarkt vorzubereiten, weil wir mehr Zeit haben, weil wir mehr Fachkräfte haben und deshalb individueller fördern können. Ich sehe es als Glück an, dass es die Werkstatt für behinderte Menschen gibt. Es ist ein Glück, dass wir jedem auch das Gefühl geben können, du wirst gebraucht und bist wertvoll in dieser Gesellschaft. Es ist wichtig, dass die Menschen nicht bewertet werden, nachdem was sie leisten können oder nach dem Bruttosozialprodukt, sondern wirklich nach ihren Fähigkeiten, ganz individuell.
Gut ist schon, dass durch die Entscheidung zur Inklusion der Fokus anders gelegt ist: Mehr Wertschätzung für unserere Schülerschaft.
Welche wichtige Frage habe ich nicht gestellt, auf die Sie aber gerne antworten würden?
Da möchte ich die Kooperationen zu den Schulen in Recklinghausen nennen: unser Beitrag zur Integration und Inklusion: Arbeitsgemeinschaften, Kunstprojekte etc. in denen sich Schüler*innen beider Systeme auf Augenhöhe begegnen und gemeinsam etwas schaffen. Jahrelange Kooperationen bestehen zum Hittorf-Gymnasium, zur Maristen-Realschule und zur Rombergschule. Joachim van Eickels
Die Raphael-Schule
Raphael-Schule Recklinghausen
Förderschule für geistige Entwicklung
Gebundener Ganztag von 8:30 bis 15:30 Uhr
Träger: Caritasverband Recklinghausen
Aktuell 263 Schüler und Schülerinnen 81 hauptamtlich Mitarbeitende
Standorte:
Börster Weg 13, 45657 RE
Wasserbank 20, 45663 RE
Tel. 02361-93440 E-Mail
Sekretariat@raphael-schule.de
Homepage www.raphael-schule.de
Die UN-Behindertenrechtskonvention
Am 13. Dezember 2006 wurde von der Generalversammlung der Vereinten Nationen das Übereinkommen über Rechte von Menschen mit Behinderungen beschlossen Die UN-Behindertenrechtskonvention beinhaltet – neben der Bekräftigung allgemeiner Menschenrechte auch für behinderte Menschen – eine Vielzahl spezieller, auf die Lebenssituation behinderter Menschen abgestimmter Regelungen. Der Rat der Europäischen Union hat am 26. November 2009 die Ratifizierung des Übereinkommens beschlossen. In der Folge ist das Übereinkommen am 22. Januar 2011 für die EU in Kraft getreten. Diese Rahmenbestimmungen für die Herstellung der Chancengleichheit für behinderte Menschen enthalten verschiedene Maßnahmen und Anregungen für die Mitgliedsstaaten, die aufgefordert sind, ihre jeweilige Politik für Menschen mit Behinderungen weiterzuentwickeln