Vor zehn Jahren ist für Ernst-Martin Barth die Zahl seiner Schäfchen sprunghaft gestiegen. Damals wurde der Pfarrer der evangelischen Matthäuskirche in Gelsenkirchen-Buer Pfarrer der Kapelle in der Arena auf Schalke. Seitdem tauft und verheiratet Barth dort Menschen, in deren Leben der Fußball ähnlich viel und noch viel mehr Platz einnimmt, als in seinem eigenen. Wo er seit 2001 eine Dauerkarte hat, wo seine Fußball-Seele dürstet, fiebert, jubiliert, hat er einen zusätzlichen Arbeitsplatz gefunden. „geistREich“ traf den Schalke-Pfarrer zum verbalen Doppelpass über Fußball und Religion.
Ernst-Martin Barth, zur Fußball-EM in Deutschland sprießen wieder die Stilblüten: Menschen pilgern zum Fußballtempel, auf dem heiligen Rasen wirkt ein Teufelskerl, das Stadion hat seine eigene Liturgie. Fußball vermischt Geistliches und Weltliches. Kann man Menschen solche Sprachbilder zumuten, die ihren Glauben ernst nehmen?
Mir fallen von früher noch Gottmar Hitzfeld oder Otto Rehakles ein. Da müssen wir nicht so streng sein. Solche Vergleiche drücken eine besondere Wertschätzung und Lebensfreude aus. Sie zeigen, dass es zwischen Sport und Religion vielfältige Bezüge gibt. Fußball hat sinnstiftende Dimensionen. Darum greift er gerne auf religiöse Begriffe zurück. Wir Menschen werden in eine andere Welt geführt, die unser Leben bereichert, und gewinnen noch mal eine besondere Identität.
Andererseits ist Fußball auch ein Stück Banalität, ...
... was wir nicht vergessen dürfen. Im Fußball finden wir ebenso eine Gewalt in der Sprache. Fußball ist übergriffig, mitunter Flucht und Betäubung. Aber wenn Menschen ihren Glauben ernst und zugleich fröhlich nehmen, können sie das unterscheiden und tolerant sein. Oder anders: Wenn wir Mut aus der Kraft des Glaubens schöpfen, können wir uns die Sprachbilder des Fußballs im positiven Sinne zumuten.
Fan kommt von „fanaticus“, was wir mit„religiös schwärmerisch“ oder „von der Gottheit ergriffen“ übersetzen können. Kann der Fußball oder der Fußballverein eine Religion sein?
Im Leben der Fans gehören Fußball und Religion zusammen. Da erkennen wir liturgieähnliche Elemente: Wechselgesänge der Fans, der Einzug der Spieler, die Fahnen und Festkleidung der Trikots. In der Arena auf Schalke ist diese ideelle Verbindung wunderschön nachzuvollziehen: Der Anstoßpunkt des Spielfelds liegt exakt auf einer Linie mit dem Spielertunnel und der Kapelle. Fußball ist nicht unser Leben, aber ein starkes Stück Leben. Wenn Kirche hier präsent ist, zeigt sie, dass sie die Menschen ernst nimmt und dass sie die Menschen mag. Gefährlich wird es allerdings, wenn aus der schönsten Nebensache der Welt das Opium fürs Volk wird. Deshalb müssen wir beide respektvoll unterscheiden.
Dann unterscheiden wir mal. Was können Glauben und Religion, was Fußball nicht kann?
Glauben und Religion verweisen eindeutig auf Gott. Die Religion weiß um unser Leben, das sich schnell verändern kann durch Krankheit, Behinderung, durch Schuld und Tod. Darum will sie unsere Lebensfragen deuten und helfen, sie zu bewältigen. Der Glaube schenkt Trost und Hoffnung. Die Beziehung zu Gott konkretisiert sich in der Liebe zu unseren Nächsten. Als Christen erfahren wir eine Bereicherung im Gebet, in der Gemeinschaft des Gottesdienstes, in der Hingabe, Gott und den Menschen zu lieben - als Schalker sogar unseren Rivalen Borussia Dortmund im strengen Sinne der Feindesliebe. Fußball dagegen kann mich nicht befreien, weiterführen und erlösen. Er gibt mir kaum Antworten auf mein Leben.
Und doch entfaltet er eine große Kraft.
Sicher. Fußball verbindet, er stiftet eine dichte Gemeinschaft im Stadion und gibt Menschen Halt und Energie. Er überwindet Grenzen und Unterschiede in Sprache, Herkunft und Hautfarbe. Vor kurzem erzählte mir ein Schalker Nachwuchsspieler aus Ghana, der die Stadionkapelle besuchte, aus seinem Leben. Unter anderem, dass ihn diese Gemeinschaft auf dem Platz stärkt, dass er Werte lernt und lebt wie Fairness, gegenseitige Wertschätzung und Teamgeist. Oder blicken wir auf die EM und ihr Motto „United by football. Vereint im Herzen Europas“: Da schafft der Sport auch eine internationale Solidarität. In diesem Füreinander und Miteinander spiegeln sich die Parallelen zwischen Fußball und Religion.
Wozu ist der Fußball in der Lage, was Kirche, Glauben und Religion nicht vermögen?
Fußball füllt Stadien, während wir uns als Kirche verkleinern und unsere Gotteshäuser leerer werden. Er begeistert in der Breite aufgrund der einfachen Regeln, die alle leicht nachvollziehen können. Ich finde es toll, dass der einfache und der gebildete Mensch durch das Spiel zusammenfinden. Die jubeln gemeinsam, die weinen gemeinsam. Dass sie, insbesondere Männer, Emotionen zeigen, sich trauen zu weinen, ist schön und Ausdruck einer starken sozialen Gemeinschaft. Wenn ich beobachte, mit welcher Inbrunst die Fans das Vereinslied singen - auch ein Glaubensbekenntnis und mit welcher Energie sie für ihre Mannschaft einstehen, da können wir als Kirche viel von lernen.
St. Paulis Ex-Präsident Conny Littmann meinte in der Süddeutschen Zeitung, der Fußball habe die Kirche in Glaubensfragen längst abgelöst. Hat er Recht?
Entschieden nein. Die Zahlen der Kirchenmitglieder mögen stark rückläufig sein, aber dennoch sehnt sich der Mensch nach dem Guten und Heilvollen, eben nach Gott. Wo sich Kirche nicht abschottet, sondern weltoffen ist und auf die Menschen zugeht, so wie wir hier mit der Kapelle im Stadion, da entsteht Begegnung.
Wer öffnet denn nachts die Türe, wer versorgt Kranke und Menschen mit Behinderungen, wer sorgt sich um die Seelennot der Kranken und Sterbenden? Es sind doch die Kirchen mit ihren Hilfsprogrammen. Sie sind in Kontakt mit der Ukraine, in Israel und Palästina. Dort schlägt nun kein Fußballverein sein Zelt auf. Die Menschen wissen noch, wo wir Kirchen sind. Dass Kirche nach wie vor - trotz aller Fehler - segensreich wirkt, fordert auch mal Dank und nicht nur Ablehnung.
Einen können wir Ihnen nicht ersparen: den Fußball-Gott.
Kein Problem, denn den gibt es nicht. Luther hat gesagt: „Woran ich mein Herz hänge, das ist mein Gott!“ Wenn Menschen Göttern Namen geben, projizieren sie ihre Ängste und Hoffnungen in den Himmel. Gott ist aber ein Gott, der sich dem Menschen zuwendet, ein Gott, dem wir unser Herz und unser Vertrauen schenken.
Darf ein Fan für den Sieg beten?
Wenn sie oder er es möchte. Aber Beten ist keine Wunscherfüllung, keine Magie. Gott ist kein Automat, in den ich oben was reinwerfe und unten was rausbekomme. Beten heißt auf Gott zu hören, Frieden zu finden, mich verändern zu lassen, wissen zu dürfen, dass wir geliebte Kinder sind. Ich bete vor dem Anpfiff für die Spieler, dass sie gesund bleiben. Ich bete dafür, dass alles fair und gewaltlos bleibt.
Pässe zu spielen wie Toni Kroos, einen Torinstinkt zu haben wie Kylian Mbappé, den Ball aus dem Winkel zu kratzen wie Manuel Neuer - ist das ein Gottesgeschenk?
Jeder Mensch, auch der kranke und beeinträchtigte Mensch, ist ein Gottesgeschenk, ein Ebenbild Gottes. Gott schenkt uns das Leben. Unabhängig von dem, was wir können oder sind. Dafür können wir nicht genug danken. Insofern ist eine besondere Begabung ein Gottesgeschenk.
Mit dem eine besondere Verantwortung einhergeht?
Wer für seine Begabung dankt, der denkt auch an andere. Zum Beispiel jene, die es schwerer haben im Leben. Wir kennen Fußballprofis, die genau das tun und zum Beispiel mit einer Stiftung etwas zurückgeben.
Kann eine Begabung für einen Menschen auch eine Überforderung werden? Womöglich eine Bürde?
Absolut. Wer Profi werden möchte, steht schon als junger Spieler unter immensem Druck. Jugendliche opfern ihre Zeit, verzichten auf Freundschaften, auf Individualisierung. In den Nachwuchsleistungszentren werden junge Menschen zu Rivalen statt zu elf Freunden. Da musst du immer alles geben, deine Leistungsdaten müssen stimmen. Der Mensch wird daran gemessen, was er leistet. Wer nicht liefert, ist raus. Oder wenn mit 20 und mit 22 Jahren das Kreuzband reiẞt. Wer dann keinen vernünftigen Schulabschluss und eine Ausbildung hat, für den bricht ein Leben zusammen. Aber der Mensch ist mehr als seine Leistung: Er ist Geschöpf.
Sebastian Deisler hat seine Karriere wegen Depressionen beendet, Robert Enke glaubte, keinen anderen Ausweg zu wissen als den Suizid. Die Verantwortlichen in den Vereinen, die Berater und die Fans müssen den Profi immer als Menschen sehen. In seinen Stärken und Schwächen, sonst wäre er nicht Mensch. Denn wir sind geliebt ohne unser Tun und unsere Leistung - so wie wir sind.
Dr. Christine Walther | Christoph van Bürk