Der Aufruf von Bundespräsident Joachim Gauck 2017 war auch das Leitwort seines Besuchs in Recklinghausen am 21. Mai 2019 - zwei Tage vor dem 70. Jahrestag des Grundgesetzes. Nach dem Gespräch mit 650 Schülerinnen und Schülern in der Christuskirche enthüllte er die Demokratieplatte am Mahnmal bei St. Peter: Freiheit, dies ist die Botschaft der Tafel, muss immer wieder erkämpft werden.
Vor 175 Jahren - am 18. März 1849 - demonstrierten etwa 20% der Einwohnerschaft unseres Städtchens für Freiheit, Freiheit, Republik“. Im Gottesdienst in St. Peter hatten sie zuvor des Aufbruchs der Revolution für „Einigkeit und Recht und Freiheit“ gedacht. Die Bewegung wurde niedergeschlagen, die schwarz-rot-goldenen Fahnen und Abzeichen der Freiheitsbewegung verboten.
Erst 1919 wurde sie zur Flagge der Weimarer Demokratie, die von Links- und Rechtsradikalen bekämpft wurde. Linke wie Rechte traten auf als Gegner von Diktaturen, so die „antifaschistische“ KPD und die „antikommunistische“ NSDAP, um die bürgerliche Mitte zu gewinnen. Tatsächlich hatte die NSDAP später keine Probleme, auch demokratische Parteien als„Kommunisten“ zu verfolgen, und die KPD bekämpfte die SPD als „Sozialfaschisten“. Die SED deklarierte ja 1961 das Todessystem der Mauer als „antifaschistischen Schutzwall“ (gegen die Bonner Demokratie!).
Die historische Erfahrung macht deutlich, dass die Trennschärfe zwischen Demokraten und ihren Gegnern darin liegt, wofür sie eintreten, nicht, was sie (angeblich) ablehnen. In Recklinghausen hat sich deshalb bereits im Jahr 2000 ein stadtweites "Bündnis für Toleranz und Zivilcourage“ gebildet.
Unter dem Eindruck der blutigen NS-Herrschaft haben die „Mütter und Väter“ des Grundgesetzes deshalb klar definiert, wofür sie stehen. Das Kernbekenntnis stellten sie der Verfassung voran: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt. Das Deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt.“ Bewusst formulierten sie das Grundgesetz auch in Verantwortung vor Gott“. Wir merken deutlich, das Würde und Rechte des Menschen selbst in Europa und erst recht bei den Gewaltherrschern der Erde mit Füßen getreten und auch bewusst als westlich“ diffamiert werden.
Die einzigartige Verbindung des Schöpfers mit seinen Geschöpfen formuliert das erste Buch des Alten Testaments: Gott schuf die Menschen, das heißt jeden Menschen nach seinem Abbild“. Das Weihnachtsfest, das viele gerade feierten, erinnert an das Geheimnis der Geburt Jesu als hilfbedürftiges Kind in einer Krippe. Diesen Menschen Jesus bekennen wir Christen als Messias, als Sohn Gottes. Und seine Botschaft lautet: Was Ihr dem geringsten Menschen tut, das habt Ihr mir getan. Der aktuelle Aufruf von Bischof Felix Genn ist eindeutig: „Wir stehen ein für den Schutz der Schwachen, für ein friedvolles Zusammenleben aller und ein bedingungsloses Ja zu Demokratie, Rechtsstaat und Menschenrechte. Wir wenden uns gegen jede Form von Rassismus, Antisemitismus sowie Hass und Ablehnung.“
Mit Erschrecken blicken wir deshalb heute auf völkische Parolen, Ausländerfeindlichkeit, Gewaltaktionen selbst gegen Rettungskräfte, Hassparolen und Anschläge auf Synagogen wie in Gelsenkirchen oder Halle. Die Gewaltbereitschaft verschiedener gesellschaftlicher Gruppen ist erschütternd. Und unfassbar erscheint, dass der Täter, der einen jüdischen Mit-Studenten an der FU Berlin Universität schwer verletzte, nicht von der Universität verwiesen werden soll.
Dem Erschrecken aber müssen Taten folgen: Wir sind zu Zivilcourage und Verantwortungsübernahme aufgerufen, z.B. durch Demonstrationen, durch das Verhalten im eigenen Umfeld, durch die Wahl demokratischer Parteien, ja mehr noch: Durch das nachhaltige Engagement in Gesellschaft und auch in Parteien. Nur aktive Demokraten können Demokratien schützen.
Georg Möllers