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Mit dem Auto in die Türkei

„Wo geht's denn hier nach Istanbul?“

Karte Openstreetmap.com

Auto und Flugzeug bringen immer noch die meisten Menschen zu ihrem Urlaubsziel, ans Meer oder in die Berge. Allerdings: Die Zahl derer, die bewusst klimaneutral mit dem Zug verreisen, steigt. Aber bis nach Istanbul oder Ankara? Türkische Familien sind mit dem Auto durchschnittlich 40 Stunden unterwegs, bis sie die türkische Grenze erreichen. Aufgrund höherer Flugpreise ist die anstrengende Autofahrt in ihre Heimat jetzt finanziell wieder attraktiver geworden. Ein Vorteil der Autofahrt: Vor Ort ist man beweglicher, um Familienangehörige in entfernteren Regionen zu besuchen.

Celalakgun (63) erinnert sich noch, wie es damals war, als Kind der ersten türkischen Gastarbeiterfamilien. Sommerferienbeginn und dann vier, fünf Wochen Urlaub im Land der Muttersprache. „Das Auto wurde vollbepackt, nicht selten überladen. Die fünfköpfige Familie eng zusammen, um alle Sachen mitzukriegen. Was haben wir nicht alles aus Deutschland mitgenommen: Kühlschränke, Waschmaschinen, Baumaterialien, Kleidung, Lebensmittel... eben alles, womit wir den Verwandten eine Freude machen wollten. Wir Kinder saẞen eng nebeneinander auf der Rückbank, die Koffer kamen aufs Dach.“ Schmunzelnd fügt er hinzu: „Der Ford Transit wurde darum scherzhaft ,Türkisches Flugzeug' genannt.“

Und dann ging es auf die nie enden wollende Reise... 2.800 Kilometer bis an die türkische Grenze und dann noch weitere 700 Kilometer bis in den Heimatort. Manche fuhren ohne Ruhepause durch, nur viermal tanken unterwegs. 26 Stunden, nur ein (übermüdeter) Fahrer, eigentlich nicht zu schaffen und im Grunde unverantwortlich, waghalsig, aber die Mütter hatten zu der Zeit in der Regel noch keinen Führerschein.

Yilmaz Hayri weiß noch genau: „Zwischen vier ,Gastarbeiterrouten' konnte man wählen: Deutschland, Österreich, Ungarn, Serbien, Jugoslawien, Bulgarien, Türkei. Eine andere ging von Serbien über Nordmazedonien und Griechenland in die Türkei. Alternativ zu diesen beiden Routen fährt man auch heute über Rumänien und jedes Mal über Bulgarien. Wegweiser war das Schild TRANSIT. Nicht TRANSIT Straßen waren tabu.“ Was er nie vergisst: „An der bulgarischen Grenze dann stundenlanges Warten, kilometerlange Staus. Passkontrolle, nach Geldwäsche wurde geforscht und die Suche nach versteckten Drogen war ebenso selbstverständlich. Je südlicher, desto schlimmer wurden die Straßenverhältnisse. Denn der Ausbau vierspuriger Autobahn befand sich noch im Planungsstadium.“

Millionen türkische Familienmitglieder fuhren so seit den 60er, 70er Jahren Jahr für Jahr in den Heimaturlaub. Natürlich gab es auf dieser gefährlichen, abenteuerlichen, strapaziösen Fahrt nicht wenige Todes- und Unfallopfer.

Heute ist es anders: Die Straßen sind besser, die Grenzen offener, die Autos sicherer, das Gepäck weniger. Denn: In der Türkei gibt es alles zu kaufen. Dennoch ist es ein Zeichen der Dankbarkeit für die gewährte Gastfreundschaft der Verwandten, ihnen etwas Schönes aus Deutschland mitzubringen. Besonders große Freude machen schicke Kleidungsstücke für die Jüngeren in der Familie.

Jetzt fahren sie bald wieder, sobald Sommerferien und Urlaub beginnen. Auch 2024 über die vertrauten Routen. „Auf der Hälfte der Strecke wird nach 14 bis 16 Stunden Fahrtzeit immer öfter eine Unterbrechung eingeplant: fünf bis sechs Stunden Schlafzeit für die Fahrenden. Möglichst in einem sauberen, sicheren Hotel, was nicht billig ist. Dafür wird nichts geklaut und kein Auto aufgebrochen“, sagt Hayri Yilmaz aus eigenen Erfahrungen. Trotz deutlich gestiegener Kosten für Flug und Mietauto vor Ort, entscheiden sich viele Familien für die Flugroute. Ist ja entspannter, schneller und Kühlschränke mitzunehmen, das war ja vor 50 Jahren...

Aloys Wiggeringloh

Übrigens...

Cem Özdemir ist Bundesvorsitzender der Grünen und Sohn eines Gastarbeiters. Mit seinen Eltern fuhr er als Kind regelmäßig in einem Opel von der Schwäbischen Alb bis in das kleine Dorf seines Vaters nordöstlich von Ankara. Sein Vater war allerdings vernünftiger als die waghalsigen Raser, hielt regelmäßig an, um auf Wiesen am Straßenrand einige Stunden zu schlafen, und übernachtete in günstigen Pensionen. Eine echte Ausnahme unter den Heimaturlaubern. „Andere Wagen sah man dann schon mal im Graben liegen.“