Liebe Leserinnen und Leser, kennen Sie das? Sie lesen ein paar Worte auf einer Karte, in einem Gedicht, an einer Wand, hören eine Liedzeile ... irgendwie lässt einen das dann manchmal nicht mehr los ... In einer Abschlussfeier begegnete mir ein Liedtext von Udo Jürgens, in dem es fragend und feststellend heißt: „Ist das halbe Leben nicht ein Abschied nehmen“!?
Vom halben oder doch ganzen Leben voller Abschiede
Ich war spontan geneigt, beim ersten Lesen zu widersprechen und mit einem deutlichen NEIN zu antworten: Nicht nur unser halbes - nein, unser ganzes Leben ist voll von kleinen und großen Abschieden, von leichten und schweren, von stillen und lauten, von heimlichen und vertrauten; Abschiede, für die wir uns bewusst entscheiden haben, und solche, mit denen wir konfrontiert wurden.
Abschiede berühren, bewegen uns, mitunter lassen sie uns kalt. Ein jeder von uns wird da wohl so seine Erfahrungen gemacht haben und dies Zeit seines Lebens weiterhin tun. Die Psychotherapeutin Verena Kast hat in diesem Zusammenhang den Begriff vom „Abschiedlich leben“ geprägt. Und so scheint es in der Tat wohl sinnvoll, den Worten von Heinz Rudolf Kunze folgend, Abschiede zu üben“, damit sie uns nicht zu schwer fallen.
Von Abschiedstypen und Abschiedswünschen
Sie werden sie kennen: Abschiede, auf die wir gerne verzichtet hätten. Verabschieden müssen wir uns in diesen Zeiten von dem uns so vertrauten Lebensgefühl, dass ein Leben in Frieden, Freiheit und demokratischer Grundordnung in unserem Land und in weiten Teilen Europas ein „Selbstläufer“ ist. Verabschieden müssen wir uns angesichts der Fülle sicht- und spürbarer Zeichen der Klimaveränderung von politischen Parolen, die ein „Weiter so“ verkünden.
Und dann diese Abschiede, die ich so herbeisehne: Verabschieden müssen wir uns in unserer Kirche vom Verständnis der Rolle der Frauen, von nicht tolerierten Formen von Lebensgemeinschaften und -entwürfen, von der peinlichen und beschämenden Art der Aufarbeitung der erschütternden Missbrauchsskandale und dem mitunter entwürdigenden Umgang mit dessen Opfern. Und dann noch diese Abschiede, die wir bewusst auf den Weg bringen. In meinem Leben steht dies nun an: Nach 32 Jahren am Alexandrine-Hegemann-Berufskolleg habe ich mich für den Abschied vom Schulleben entschieden. 32 Jahre, das sind mehr als die Hälfte meines Lebens ...Und apropos das „halbe Leben“ - Udo Jürgens liegt wohl doch nicht ganz so falsch mit seiner These, denn ...
Von Verlusten und Gewinnen und Mehrfachchancen
Alle Abschiede eint, dass uns durch sie Verlust und Gewinn zuteilwird. Es gilt, Vertrautes und Geschätztes zurücklassen zu müssen bzw. zu können. Sie sind aber auch unentwegte Appelle an uns und zugleich Mehrfachchancen, aufzubrechen, um unser Leben und das unserer Mitmenschen neu auszurichten. Auch in der Bibel finden wir viele Abschiedsgeschichten. Von Trauer oder schweren Herzen ist darin aber kaum die Rede, wohl immer aber vom Aufbruch, Neubeginn und Veränderung. Und wenn also, Udo Jürgens folgend, nur unser halbes Leben im Zeichen von Abschieden steht, so bleibt uns dann ja immerhin in der anderen Hälfte Zeit und Raum für Wandel und Veränderung ... Und lieber Udo Jürgens, mit Blick auf diese Welt: Was hältst du von „30% Verabschieden“ und „70% Veränderung“, oder doch sogar 20% / 80% oder ...
Gregor Rüther
Gregor Rüther
⚫ 63 Jahre
⚫ Lehrer und Musiker
⚫ Schulleiter am Alexandrine-Hegemann-Berufskolleg